JOANA RETTIG

Mein Leben

Journalismus, Feminismus, Hip Hop, bouldern, meine Ukulele, Wein und ein Hund. Damit ist fast alles gesagt.

 

Wobei … da geht noch was.

Ich wuchs in den 90er Jahren im hessischen Odenwald auf

– böse Zungen behaupten, er sei die Hölle. Na ja – irgendwie haben sie recht. Der FAS-Artikel über „Dieses Stück Germany“ kratzt im Übrigen noch immer an den Herzen der Ureinwohner:innen. Das Konzept Lokalpatriotismus ist mir hingegen fremd. Ich verstehe es nicht. Aber das würde ich so gern. Menschen verstehen, die so etwas wie Stolz für ihre Heimat empfinden. Ich kann es nicht. Was haben der Odenwald und ich schon gemeinsam erreicht? Dass ich zuhörte, wie ein TSV-Mitglied Schwarzen Kindern, die im Regen spielten, zurief, sie sollten aufpassen, dass „die Farbe nicht abgeht“? Dass ich als Kellnerin mit Männern Schnäpse trank, die zuvor meiner Kollegin einen Klaps auf den Hintern gegeben hatten – weil, Zitat des Chefs, „die geben gutes Trinkgeld“? 

Haben sie nicht.

Überhaupt ist das mit Geld so eine Sache.

Geprägt wurde meine Kindheit von (zu) wenig Geld. Alle wussten es. Man kennt sich. Ich erlebte jeden Tag die Sorgen einer hart arbeitenden, dreifachen Mutter und eines psychisch kranken Vaters. Seit ich zehn war, verdiente ich mein eigenes Geld. Das Bild der starken Frau wurde mir regelmäßig ins Gesicht gebrannt. Das Bild finanziell schwacher Familien auf dem Land auch.

Bildung war zweitrangig. Für uns alle. Und es hat Jahre gedauert, bis ich begriff, dass ich mehr aus mir machen kann. Dass ich mehr wert bin, als ich bislang glaubte. Dass ich überhaupt irgendetwas kann. Ich hatte andere Sorgen. Obwohl: Journalistin wollte ich immer werden. Karla Kolumna himmelte ich schon als kleines Mädchen an: Frech war sie. Und kritisch. Vor dem Herrn Bürgermeister hatte sie keine Angst, nein. Sie überzog ihn lieber mit fiesen Witzeleien. 

Sie ließ sich nicht von Reichen, Mächtigen beeindrucken, zog ihr Ding durch. Und das immer mit einem Lächeln im Gesicht und dem altbekannten „Hallöchen!“, das mich seit meiner Kindheit begleitet. Das ich sogar irgendwie in meinen Sprachgebrauch eingebaut habe. Noch heute. Und ich weiß, ich bin nicht die einzige, der Frau Kolumna ein Vorbild war. Ich liebte es schon immer, zu schreiben. Ich las schon immer gern und viel. Aber das, das alles – dieses Journalisten-Zeugs, das klug Sein, das Studieren und gemeine Fragen Stellen – war für mich nie mehr als ein Traum. Wie sollte ich mit meinen Noten, mit meinem Hintergrund jemals auch nur in die Nähe einer Zeitung kommen?

Irgendwann änderte sich aber meine Meinung. Änderte ich mich. Ich holte alles auf, machte Abitur, studierte dual. Meine Abschlussarbeit schrieb ich über die Informationsaufnahme und Verarbeitungskapazität von Rezipienten der Titelseite des „Mannheimer Morgen“. Und so – yes! – landete ich in der Redaktion, durfte volontieren. Einige andere Zwischenstationen habe ich hier mal ausgeblendet.

 

Warum erzähle ich das alles? Ich glaube, es ist wichtig, zu verstehen, wie Diversität funktioniert. Alter, Ethnie und Nationalität, Geschlecht und Geschlechtsidentität, körperliche und geistige Fähigkeiten, Religion und Weltanschauung, sexuelle Orientierung und Identität. Und zu guter Letzt: soziale Herkunft. Dazu zähle ich auch unterschiedliche Lebenserfahrungen. Für mich ist es besonders wichtig – und ich denke, das liegt an meiner Geschichte -, dass in der Berichterstattung gerade jene berücksichtigt werden, die von den Großen in der Politik selten bedacht werden. 

Menschen, die übersehen werden, und Menschen, die die Politik nicht erreicht.

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